Wahrnehmungen, Gefühle, Emotionen, Symbole, Fantasien und Vorstellungen, die in direktem Zusammenhang mit der Sexualität stehen, bezeichnen wir als Komponenten des Erlebens. Sie entwickeln sich über Lernschritte im Sexualisierungsprozess. Die Erregungsmodi, die wir uns aneignen, haben einen wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung.
In ihrer Interaktion miteinander machen die Komponenten des Erlebens die Sexodynamik aus. Als Sexodynamik bezeichnen wir einerseits die Kunst zu erkennen, was uns sexuell anzieht und erregt. Andererseits verstehen wir darunter die Fähigkeit, diese Anziehung und Erregung über ein sexuelles Begehren auszudrücken, mit erotischen Bildern, Fantasien und Gefühlen sowie mit dem Erleben der eigenen Männlichkeit und Weiblichkeit zu verbinden und lustvoll in einer autoerotischen oder partnerschaftlichen Sexualität zu geniessen.
In der Folge wird auf die einzelnen Komponenten des Erlebens genauer eingegangen.
Die sexuelle Lustfunktion ist die Fähigkeit, die sexuelle Erregung zu geniessen. Die meisten Männer, Frauen und Paare, die uns konsultieren, möchten ihren Traum vom lustvollen Erleben der Sexualität verwirklichen. Doch ist dies möglich, wenn keine fliessenden Bewegungen die Diffusion der sexuellen Erregung im ganzen Körper zulassen, wenn die Erregung nicht im Becken kanalisiert werden kann, wenn die Fähigkeit fehlt, loszulassen? In anderen Worten: Da das Gehirn und der Körper eine funktionale Einheit bilden, wirkt sich eine Verbesserung der Erregungsfunktion unmittelbar auf die Lustfunktion und die Orgasmusfähigkeit aus.
Die folgende Tabelle zeigt, in welcher Weise körperliche Fähigkeiten ein gutes sexuelles Funktionieren ermöglichen:
Die körperlichen Fähigkeiten beeinflussen also das emotionale Erleben. So verhindert etwa eine hohe Muskelspannung lustvolle Wahrnehmungen. Je mehr Fähigkeiten ein Mensch durch die Weiterentwicklung seiner Erregungsfunktion erlangt, desto mehr kann er seine Erregungskurve modulieren, und desto intensiver erlebt er sexuelle Lust und den Orgasmus. Die Kognitionen – also das, was ein Mensch über die Sexualität weiss, die Normen, die für ihn gelten, seine Überzeugungen – fördern oder hemmen Lernschritte und beeinflussen somit seine Lust- und Erregungsfunktion.
Sexuelle Gesundheit in Bezug auf das Erleben von Lust setzt die Fähigkeit voraus, sexuelle Erregung und Hingabe bzw. Loslassen auf genitaler wie emotionaler Ebene intensiv zu geniessen. Die Grundlage dafür ist die Verbindung angenehmer Gefühlswahrnehmungen mit der körperlichen Erregung. Das ist nicht immer gegeben: Es ist auch möglich, dass sich sexuelle Erregung mit unangenehmen Gefühlen verbindet. Im extremen Fall wird etwa bei einer Vergewaltigung körperliche sexuelle Erregung ausgelöst; die dabei erlebten Gefühle aber sind schmerzvoll. Im Gegensatz zu Masters und Johnson, die den sexuellen Reaktionszyklus auf einer Kurve darstellten, unterscheiden wir daher zwei Kurven: die Kurve der körperlichen Erregung und die Kurve des emotionalen Erlebens, also der sexuellen Lust.
Die Entwicklung eines Gefühls der Geschlechtszugehörigkeit ist mit Lernschritten auf Ebene der Genitalität verknüpft. Ein Aspekt beim Mann ist, dass er seine Fähigkeit zu penetrieren (Intrusivität) erotisieren kann (phallische Erotisierung). Bei der Frau geht es analog um die Entwicklung der Rezeptivität (Erotisierung der Vagina), das heisst, den Wunsch, aktiv etwas in die Vagina hinein zu nehmen, sich daran zu erregen und davon ausgefüllt zu werden. Phallische Erotisierung und Erotisierung der Vagina als persönliche Fähigkeiten spiegeln sich sowohl in den inneren Bildern und sexuellen Fantasien als auch in der Körperhaltung und dem Verhalten.
Bei Intrusivität und Rezeptivität handelt es sich um ein Kontinuum, zu dem beide Geschlechter Zugang haben. Auch Männer können Rezeptivität geniessen, auch Frauen können Intrusivität geniessen. In der Therapie wird die Entwicklung der Intrusivität bei Männern und der Rezeptivität bei Frauen oft dann ein Thema, wenn die Klienten in ihrer Sexualität an Grenzen stossen oder Probleme bezüglich ihrem Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit haben.
Das Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit widerspiegelt sich auch in der Fähigkeit, sich zumindest minimal an soziale und kulturelle geschlechtsspezifische Zuordnungen anzupassen. Seit einiger Zeit findet diesbezüglich eine kritische Auseinandersetzung statt. Diese betrifft etwa Intersexuelle (Personen mit nicht eindeutig zuordenbaren männlichen oder weiblichen Geschlechtsorganen), Transsexuelle und Personen, die sich als «genderqueer» bezeichnen. Genderqueer ist ein Begriff für vielfältige sexuelle Lebensformen, die häufig «quer» zu traditionellen Geschlechterrollen und Normen verlaufen.
Der Sexocorporel als therapeutisches Instrument geht bezüglich dem Gefühl der Geschlechterzugehörigkeit nicht von einem «Richtig» oder «Falsch» aus, sondern vom Anliegen der Klienten.
Sexuelle Selbstsicherheit bedeutet einerseits die Zufriedenheit mit der eigenen Männlichkeit oder Weiblichkeit und die Fähigkeit, sich selbst zu erotisieren. Andererseits meint es die Fähigkeit, sich anderen sexuell begehrenswert und liebenswert zu zeigen.
Das sexuelle Begehren ist die Vorwegnahme erotischer Erfahrungen, die den Erregungsreflex begleitet bzw. sein Auslösen begünstigt. Ausgehend von verschiedensten persönlichen Bedürfnissen, die sexuelle Handlungen motivieren, können wir drei Formen des sexuellen Begehrens unterscheiden:
Die sexuellen und emotionalen Anziehungskodes – das, was einen Menschen sexuell und emotional anzieht und erregt – beziehen sich auf die körperlichen Merkmale resp. die Person des/der Anderen. Sie umfassen auch Objekte, Szenarien etc. Die Anziehungskodes ermöglichen eine genauere Erfassung der sexuellen Orientierung eines Menschen als die Kategorisierung in «homosexuell», «heterosexuell» etc. Wir unterscheiden Anziehungskodes auf den Ebenen der Realität, der Fantasie und der Träume.
Eine Person kann über ein breites Spektrum, eine grosse Variabilität von Anziehungskodes verfügen. Mitunter sind sie eingeengt, im Sinne einer ausschliesslichen sexuellen Erregbarkeit über bestimmte Körperteile, Objekte oder Szenarien (->«Fetischismus»).
Sexuelle Fantasien umfassen Vorstellungen, Erinnerungen und Vorwegnahmen in allen Sinnesqualitäten (Bilder, Gerüche etc.). Sie können den Erregungsreflex auslösen und begleiten. Sie setzen das sich Einlassen auf modifizierte Bewusstseinszustände bis hin zum Schlaf (Träume) voraus.
In den sexuellen Fantasien spiegelt sich die persönliche – insbesondere sexuelle – Entwicklungsgeschichte, das heisst, Lernschritte auf der kognitiven Ebene sowie auf den Ebenen der Erregnungsfunktion, der Sexodynamik und der Beziehungsfähigkeiten. Die Fantasieinhalte umfassen enge bis sehr reichhaltige Szenarien; sie sind Metaphern für die Auseinandersetzung mit der eigenen Männlichkeit/Weiblichkeit, Intrusivität/Rezeptivität, mit Anziehungskodes, sexuellem Begehren etc. sowie mit Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten.
Die Fähigkeit, den sexuellen Bedürfnissen und Wünschen, dem sexuellen Begehren und dem erotischen Handeln eine emotionale Intensität zu verleihen, führt zu einer Lebendigkeit in der persönlichen Ausdrucksweise.