Die Erregungsfunktion lässt sich in zwei Bestandteile teilen:
Der Wunsch vieler Frauen und Männer, Sexualität zu geniessen und in einer Liebesbeziehung zu leben, also ihr Wunsch, Genitalität mit dem Erleben von Intimität zu verbinden, basiert letztlich auf dem Erregungsreflex. Wenn die Erregungssteigerung gelingt, endet die Reise mit dem Erreichen des point of no return über ein zweites reflektorisches, d.h. unwillkürliches Geschehen, das in den Orgasmus mündet.
Den zwischen den beiden Reflexen gelegenen «Raum» können wir über Lernprozesse «bewohnbar» machen. Lernen bedeutet das Aktivieren übergeordneter Hirnzentren und ermöglicht das bewusste Erleben. Lernschritte im Zusammenhang mit dem Erregungsreflex beeinflussen direkt die Qualität des erotischen Handelns und Erlebens und werden daher direkte Kausalitäten genannt.
Der Erregungsreflex kann beim männlichen Fötus bereits in der Gebärmutter über Ultraschalluntersuchungen beobachtet werden. Alle psychischen, die Sexualität betreffenden, d.h. Komponenten des Erlebens wie auch die sexualitätsbezogenen Kognitionen und die entsprechenden Beziehungskomponenten entwickeln sich in enger Wechselwirkung mit der Erregungsfunktion.
Der Erregungsreflex und die Lernprozesse stehen insofern miteinander in Beziehung, als sich die Intensität der sexuellen Erregung, genau genommen die Vasokongestion, willentlich nur über das Spiel mit den sie begleitenden Veränderungen der muskulären Spannung und rhythmischen Bewegungen beeinflussen lässt. Alle Lernprozesse in den verschiedensten menschlichen Ausdrucksweisen (Gehen, Sprechen, Musizieren, Tanzen, u.v.m.) beruhen letztlich auf der Handhabung der drei körperlichen Gesetzmässigkeiten – sowie natürlich der Atmung.
Sexuelle Erregung kann über ein bewusstes Steuern bzw. Spielen mit den sie begleitenden körperlichen Reaktionen in quantitativer (Intensität) und qualitativer (Genuss) Hinsicht beeinflusst werden. Unsere KlientInnen haben häufig das Anliegen, mehr sexuelle Lust zu empfinden und den Orgasmus zu erreichen. Die Voraussetzung hierzu sind Lernschritte auf körperlicher Ebene: Nur über die Diffusion, das heisst, die Fähigkeit, die sexuelle Erregung sich im Körper ausbreiten oder diffundieren zu lassen, können die sexuellen Lustgefühle und das Erleben der sexueller Erregung intensiviert werden.
Die Kanalisation wiederum, das heisst, die Fähigkeit, die sexuelle Erregung in den Genitalien zu kanalisieren, ermöglicht ein Erreichen des point of no return und der orgastischen Entladung (Ejakulation, spasmodische Reaktion) oder des Orgasmus, der eine gleichzeitige emotionale Entladung umfasst. Diese bewusst steuerbare, indirekte Beeinflussung des Erregungsreflexes über körperliche Lernprozesse ist jeder Frau und jedem Mann zugänglich.
Begriffserklärungen:Orgastische Entladung, Orgasmus, (An)orgastie, (An)orgasmie
Jean-Yves Desjardins beobachtete, dass die meisten Menschen spezifische Stimulationsgewohnheiten haben, und dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem subjektiven Erleben der Sexualität, dem objektiven Ablauf der Erregungssteigerung und der Art, wie Menschen dabei den Körper einsetzen.
Der Begriff «sexueller Erregungsmodus» bezeichnet diese oft über Jahre konstanten, spezifischen körperlichen Bewegungs- und Stimulationsgewohnheiten, die ein Individuum mehr oder weniger bewusst nutzt, um sich allein und mit Anderen sexuell zu erregen und, falls möglich, eine orgastische oder orgasmische Entladung zu erreichen.
Die sexuellen Erregungsmodi sind konditionierte Stimulationsmuster, die ab der frühen Kindheit eingeübt und erlernt werden können. Sie sind durch Übung lebenslang veränderbar.
Damit Männer und Frauen die Qualität ihres Sexuallebens mit geeigneten Lernschritten verbessern können, muss zunächst evaluiert werden, in welchem Erregungsmodus sie primär funktionieren und welche Grenzen sich ihnen dort eventuell setzen.
Wir unterscheiden zwei Gruppen von Erregungsmodi: Spannungsmodi und Bewegungsmodi. Bei den Spannungsmodi wird eine anhaltend hohe muskuläre Spannung zur Intensivierung der sexuellen Erregung eingesetzt, bei den Bewegungsmodi gelingt die Intensivierung durch eine Abwechslung aus Anspannung und Entspannung.
Dieser Erregungsmodus funktioniert über Stimulation propriozeptiver Rezeptoren (Tiefensensibilität) in der Genitalgegend. Er wird häufiger von Frauen, etwas seltener von Männern benutzt.
Frauen steigern ihre Erregung durch Schenkelpressen – mit oder ohne Objekt (Kissen etc.) –, durch kräftiges Anspannen der Beckenbodenmuskulatur oder durch Pressen der Genitalregion gegen eine Unterlage. Männer klemmen den Penis zwischen die Oberschenkel, pressen ihn mit der Hand oder dem Gewicht ihres Körpers gegen eine Unterlage, drücken mit drei Fingern die Eichel u.s.w.. Voraussetzung sind immer intensives Pressen und Drücken, oft begleitet von kräftigen raschen Bewegungen; die Muskulatur des ganzen Körpers ist gespannt (muskuläre Rigidität), die Atmung stark eingeengt.
Der Druckmodus its sehr effizient und ermöglicht eine rasche orgastische Entladung. Die anschliessende Entspannung wird in der Regel als wohltuend erlebt. Es kann sich je nachdem ein Gefühl von Sicherheit einstellen durch das «Gehaltensein» in der Anspannung. Bei manchen Frauen ist durch die Beckenbodenspannung eine orgastische Entladung bei vaginaler Penetration möglich. Bei manchen Männern gelingt so die Erregungssteigerung durch anale Anspannung und Stimulation.
Die Grenzen des Druck-Erregungsmodus sind bedingt durch die hohe Muskelanspannung. Sie begrenzt zum einen genitale Vasokongestion und Lustgefühle. Zum anderen ist durch die Versteifung im Oberkörper der Zugang zum Erleben sexueller Lust begrenzt. Hierzu kommt eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems durch die hohe Spannung, insbesondere im Oberkörper. Diese erklärt, warum Gewaltfantasien und unangenehme Gedanken oder Gefühle relativ häufig sind. Es kann je nachdem auch zu körperlichem Unwohlsein durch muskuläre Rigidität und häufige Atemblockaden kommen.
In der Paarsexualität können kreative Lösung zur Erregungssteigerung eingesetzt werden (Inszenierungen, Rollenspiele). Manchmal werden feine oberflächliche Berührungen unangenehm empfunden, was den Austausch von Zärtlichkeiten erschwert. Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems kann wertenden Blick und kritische Distanz auslösen. Nähe wird oft erst nach der Entladung und Entspannung möglich.
Wenn das Ritual der Erregungssteigerung präzise ist, kann es beim Geschlechtsverkehr je nachdem nicht eingesetzt werden. Wenn ein Mann sich einzig im Druckmodus erregt, beobachten wir immer wieder Ejakulationsprobleme und Erektionsprobleme. Frauen berichten öfters über Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr, etwa Orgasmusprobleme oder Schmerzen durch Verspannung des Beckenbodens. Ein unbewegtes Becken fördert zudem nicht Fantasien und Begehren danach, mit dem Penis einzudringen oder mit der Vagina aufzunehmen.
Der mechanische Erregungsmodus wird von vielen Männern und Frauen zur Gestaltung und Steigerung der sexuellen Erregung genutzt. Er ermöglicht eine orgastische Entladung durch die Stimulation von Oberflächenrezeptoren durch gleichförmige, rasche, «mechanische» Reibung. Zugleich steigt die Muskelanspannung im Beckenraum, oft auch im ganzen Körper stark an.
Der mechanische Erregungsmodus stimuliert die oberflächlichen Sinnesrezeptoren der Haut über rasches Reiben der Vulva, insbesondere im Bereich der Klitoris, teils an ganz umschriebener Stelle, bzw. des Penis oder von Teilen des Penis (z.B. Eichel oder Frenulum). Die stimulierenden Bewegungen sind zunehmend schnell und mechanisch, konstant und kontinuierlich und führen zu Automatismen. Sie werden oft nicht bewusst wahrgenommen. Bei der Penetration bewegt der Mann seinen ganzen Körper en bloc zunehmend rasch vor- und zurück (was ausgedrückt wird mit Begriffen wie «bumsen»).
Die genitale Erregung erfordert oft erhöhte Konzentration und ist daher störungsanfällig. Sie kann auch mit Anstrengung einhergehen. Durch die Versteifung im Oberkörper und Aktivierung des sympathischen Nervensystems ist der Zugang zum Erleben sexueller Lust begrenzt. Die Wahrnehmung ist zum Teil auf eng umschriebene Empfindungen im Genitalbereich eingegrenzt. Oft müssen aktiv sexuelle Fantasien zur Erregungssteigerung beigezogen werden.
Teilweise wird, besonders bei Frauen, ein präzises Ritual von Rhythmus, Druck und Position benötigt, um eine orgastische Entladung zu erreichen. Wenn das Ritual sehr präzise ist, kann es evt. vom Partner oder der Partnerin nicht durchgeführt werden. Beim Geschlechtsverkehr erreichen die einen Frauen durch zusätzliche Reibung an Vulva oder Klitoris einen Orgasmus, bei anderen stört die Penetration bei der Erregungssteigerung. Auch beim Petting gelingt es Partner*innen möglicherweise nicht, die richtige Art der Stimulation am richtigen Punkt einzusezen.
Schwierigkeiten bei der Kontrolle der Ejakulation sind bei Männern nicht selten, da der mechanische Erregungsmodus oft wenig bewusst eingesetzt wird und Lernschritte zur Modulation der sexuellen Erregung nicht fördert. Mit zunehmendem Alter entwickeln Männer manchmal eine koitale erektile Dysfunktion, da die Reizung innerhalb der Scheide nicht mehr genügt.
Dieser Modus bezieht gleichzeitig oberflächliche wie tiefe Rezeptoren mit ein. Bei der Selbstbefriedigung wird die Stimulation durch Druck und Reibung erzeugt, etwa durch kräftiges Reiben der Genitalien an einer Unterlage oder einem Kissen u.s.w. Die Grenzen im genussvollen Erleben der Sexualität und die Probleme beim Geschlechtsverkehr sind ähnlich wie beim Druck-Erregungsmodus oder beim mechanischen Erregungsmodus.
Der VIM ähnelt dem Druck-mechanischen Erregungsmodus. Er aktiviert oberflächliche und tiefe Vibrationsrezeptoren über extrem rasche Impulse. Die Stimulation erfolgt meist direkt auf die Klitoris/Eichel mittels Vibrator oder Duschstrahl. Dabei werden Muskeln im Bereich des Geschlechts oder auch des ganzen Körpers stark angespannt. Der VIM ist häufiger bei Frauen zu finden als bei Männern.
Durch Vibration lässt sich eine orgastische Entladung oft sehr schnell erreichen. Für anorgastische Frauen kann dieser Modus eine einfache Möglichkeit sein, erste Entladungen zu erleben. Probleme können sich ergeben, wenn eine Person für die Erregungssteigerung ein bestimmtes Sexspielzeug braucht, und dieses in der Paarsexualität nicht eingesetzt wird. Durch die hohe Muskelspannung sind die Grenzen im genussvollen Erleben der Sexualität ähnlich wie beim Druck-Erregungsmodus oder beim mechanischen Erregungsmodus.
In diesem Modus bleibt die Person im Zustand sexueller Fluidität, das heisst ihre Bewegungen sind im ganzen Körper fliessend; die Muskeln sind nicht verspannt. Dadurch diffundiert die Erregung in den ganzen Körper, was zu sehr genussvollen Empfindungen und intensivem erotischen Erleben führt. Das Spiel mit Rhythmen und Bewegungen ist sehr abwechslungsreich, der Muskeltonus variiert, ist aber grundsätzlich eher tief. Daher kommt dieser Erregungsmodus meist bei Frauen vor.
Für eine orgastische Entladung fehlt zum Teil der notwendige Spannungsaufbau, das heisst, die Fähigkeit, die sexuelle Erregung über muskuläre Spannungszunahme in den Genitalien zu kanalisieren. Das Erreichen einer orgastischen Entladung ist daher in der Regel nur durch Wechsel in einen anderen Modus möglich.
In diesem Modus werden die tiefen Rezeptoren über die «doppelte Schaukel» aktiviert. Bei dieser werden das Becken und die Schultern gleichzeitig, durch die Bauchatmung angetrieben, in der Körperachse bewegt (ähnlich wie beim Husten, Lachen oder Schluchzen). Man unterscheidet die untere Schaukel (Beckenbewegung) und die obere Schaukel (Bewegungen von Brust, Schultern und Kopf). Die untere Schaukel intensiviert die sexuelle Erregung, die obere die Gefühlsempfindungen.
Wie im ondulierenden kommt es im wellenförmigen Erregungsmodus zu einem Spiel feiner bis heftiger Bewegungen, langsamer bis rascher Rhythmen und sich ändernder Muskelspannung. Anders als im ondulierenden Modus laufen diese Bewegungen in der Körperachse. Die alternierenden Bewegungen intensivieren die sexuelle Erregung über die Resonanz der sich steigernden Wellen bis hin zum Orgasmus. Dieser wird über die Verbindung von sexueller Erregung und intensiven lustvollen Gefühlen erreicht. Es kommt im Orgasmus zu einem doppelten Loslassen: Auf der genitalen Ebene wird die Erregung über die Beckenschaukel gesteigert und nach der Diffusion über den ganzen Körper wieder in den Genitalien kanalisiert, um eine Entladung zu ermöglichen. Das emotionale Loslassen über die obere Schaukel ermöglicht das Wahrnehmen der Lustgefühle, die diese Entladung begleiten.
Der wellenförmige Erregungsmodus ermöglicht Frauen ein intensiveres Wahrnehmen von Empfindungen innerhalb der Scheide und das Bewusstsein einer inneren Höhle. Dieses «Erotisieren» der Scheide ist Voraussetzung zum Erlernen eines koital sexuellen Begehrens (siehe unten). Männer schaffen mit dem WEM die körperlichen Voraussetzungen dafür, sich phallisch-penetrierend zu erleben. Diese «phallische Erotisierung» wiederum ist für sie die Basis des koital sexuellen Begehrens.